Aus der Zeitschrift EinSicht Winter 2004

Die Vogelmiere

von Hedwig Bickel

Nach der Beschäftigung mit Gänseblümchen, Löwenzahn und Brennessel beenden wir unsere diesjährige Serie: "Ungeliebte, aber wichtige Pflanzen für unsere Gesundheit" mit der Vogelmiere.

In einem Kräuterbuch fand ich folgende Ausführung über die Vogelmiere: "Eins der gemeinsten Unkräuter wuchert üppig in Gärten, Weinbergen, Äckern, auf unbebautem Land, an Wegrändern und Ufern. Mit anderen Worten überall. Es wuchert das ganze Jahr über, auch im Winter, und bildet einen saftigen, dichten Rasen." Es verschlug mir die Sprache. Das konnte nur jemand geschrieben haben, der das Geschenk dieser Pflanze an uns Menschen nicht verstanden hatte. Aber dann begriff ich, dass man sie erst näher kennenlernen muß, um Freundschaft mit ihr zu schließen.

Die Vogelmiere liebt stickstoffreiche, eher basenhaltige, feuchte Böden. Im Schatten wird die Pflanze besonders üppig. Aber auch in mancher Mauerritze und als Gast in Blumentöpfen ist die Vogelmiere zu entdecken. Ihre langen, am Boden niederliegenden oder halb aufrechten Stengel sind dünn, rund und stark verzweigt. Ihr Anblick mutet an wie ein filigranes Kunstwerk. An den Stengelknoten können sich neue Wurzeln bilden. Wenn man einen Stengel auseinander bricht, sieht man, dass er im Inneren wie durch einen Darm verbunden ist, daher der Volksname "Hühnerdarm".

Die Blätter werden nur etwa 1 cm groß, sind sattgrün und herzförmig. Schaut man sich die kleine, weiße Blüte genau an, dann weiß man, woher ihr lateinischer Gattungsname (stellaria = kleiner Stern) kommt: Die fünf Blütenblätter sind so tief gespalten, dass sie aussehen wie ein zehnstrahliger Stern. Ein weiteres typisches Erkennungszeichen ist die in Längsrichtung auf dem Stengel verlaufende einzelne Haarreihe. Dadurch kann man die Vogelmiere leicht von der Großen Sternmiere (stellaria holostea) unterscheiden. Die Vogelmiere zeigt eine unglaubliche Lebenskraft. Fünf bis sechs Generationen bringt eine Pflanze im Laufe eines Jahres hervor und erzeugt dabei pro Generation 10 000 bis 20 000 Samen! Diese können bis zu 60 Jahren in der Erde ruhen. Werden die Blüten nicht von Insekten bestäubt, so bestäuben sie sich einfach selbst. Wir haben mit der Vogelmiere eine köstliche Wildpflanze in unserem Garten, ohne dass wir sie aussäen müssen. Bemerkenswert ist ihr hoher Gehalt an Kalium, Eisen und Vitamin C, außerdem enthält sie Saponine. Der knackig frische Geschmack erinnert an junge Erbsenschoten und frische Maiskölbchen. Das haben die Vögel schon lange entdeckt und stürzen sich gierig auf diese Köstlichkeit. Stubenvögel und Hühner fressen die ganze Pflanze, auch die Samen, besonders gern. Der Name Vogelmiere stammt sicherlich daher.

Auch für uns Menschen ist diese Pflanze ein Geschenk, ein wichtiger Vitamin- und Mineralstoffspender, der sich hervorragend zur Verfeinerung von Suppen, Gemüse, Salat, Quark und Brotaufstrich eignet (siehe Rezeptteil). Da die Vogelmiere keine Winterruhe kennt, Frosttage ausgenommen, steht sie uns fast jederzeit zur Verfügung. Wegen ihres milden Geschmacks ist sie ein Ausgleich für bittere und scharfe Wildkräuter. Sie eignet sich auch, Kinder und skeptische Erwachsene an die Wildkräuterküche heranzuführen. Das Kraut wird am besten mit einer Schere geerntet, da es sonst leicht ausgerissen wird. Gegeben hat es die Vogelmiere schon in der letzten Eiszeit, wie Fossilienfunde beweisen. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine derart weit verbreitete, inhaltsstoffreiche und bekömmliche Pflanze, die dazu noch das ganze Jahr über grünt und blüht, von unseren Vorfahren rege genutzt wurde.

Aber erst im 19. Jahrhundert wurde die Vogelmiere von Sebastian Kneipp für die Heilkunde entdeckt. Wegen ihrer schleimlösenden Wirkung nannte er sie Lungenkraut. Rezept für einen schleimlösenden Tee: 1 Teel. Vogelmierenkraut (frisch oder getrocknet) mit einer Tasse kochendem Wasser überbrühen, 5 - 7 Minuten ziehen lassen, abseihen, 2 mal tägl. eine Tasse warmen Tee trinken, 4 - 6 Wochen lang. Mischt man Vogelmierenkraut zu gleichen Teilen mit Spitzwegerich und Schachtelhalm, kann man den Erfolg verbessern. Will man das Kraut trocknen, ist das Frühjahr die beste Zeit dafür. Man nimmt die ganze Pflanze, allerdings ohne die Wurzeln.

Äußerlich verwendete Kneipp die Vogelmiere zum Waschen und als Auflage bei Wunden und Geschwüren. Entzündete Augen können mit einer Abkochung ausgewaschen werden. In der Homöopathie verwendet man die Vogelmiere bei Rheuma, Gelenkentzündungen und Bronchitis.

Heute weiß man, dass die Vogelmiere durch ihren Saponingehalt dazu beitragen kann, einen zu hohen Cholesterinspiegel zu senken. Bei meiner Beschäftigung mit der Vogelmiere ist mir von neuem klar geworden, welche großen Schätze sie sowohl in der Kräuterapotheke als auch in der Kräuterküche für uns Menschen bereit hält. Danke, liebe Vogelmiere!

Vielleicht haben auch Sie Lust bekommen, sich die Vogelmiere zur Freundin zu machen.

Literatur:

  • Das große Buch der Heilpflanzen, M. Pahlow.
  • Der Kosmos Heilpflanzenführer, Peter und Ingrid Schönfelder.
  • Essbare Wildkräuter und -fruchte, Joachim Mayer, Jutta Nerger.
  • Wildfrüchte -gemüse -kräuter, Elisabeth Mayer.
  • Wildkräuterküche, Doris Grappendorf.
  • Welche Heilpflanze ist das? Bruno P Kremer.
  • Feld-, Wald- und Wiesenkochbuch, Eve Marie Helm.
  • Eßbare Wildpflanzen, Hartmut Engel und Iris Kürschner.
  • Was blüht im Frühling, Sommer, Herbst und Winter? Eva und Wolfgang Dreyer.

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