Aus der Zeitschrift EinSicht Frühjahr 2010

Meine Ameisen

Von Anne Schmidt-Tiedemann

Ich habe vor einiger Zeit das Haus meiner Großmutter übernommen, die verstorben ist. Schon früher besuchte ich sie dort oft, es war immer eine schöne Zeit. Sie hatte einen riesigen Garten, in dem wir wirklich alles an Obst und Gemüse finden und naschen konnten, was man sich vorstellen kann. Danach war es vermietet und nun will ich es als zweiten Wohnsitz mein Eigen werden lassen. Es handelt sich um ein altes Fachwerkhaus, an dem viel renoviert werden müsste und es gibt Heerscharen von Ameisen!

Die Ameisen laufen nicht nur in einer Straße rund um das Haus, sondern in fünf Spuren nebeneinander, immer entlang der Grenze zwischen Fundament und erstem Holzbalken – in Höchstgeschwindigkeit. Zumindest war es vor etwa drei Jahren so, als ich dort teilweise einzog. Zwei bis drei Straßen führten zum Haus hin und weg und vorne neben der alten Haustür war ein Balken von unten bis oben mit den kleinen Tieren übersäht.
"Du musst unbedingt etwas gegen die Ameisen tun, die machen Dir das ganze Holz kaputt," sagten die Freunde und Verwandten, die mich besuchten. Vor meinem inneren Auge sah ich das alte Gebäude bereits einstürzen. Da ich noch nicht einmal das Geld besaß, um die anderen Mitbesitzer auszuzahlen, fragte ich mich, ob ich mir nicht vielleicht doch wirklich Sorgen machen müsste ?!?

Aber eigentlich waren meine Pläne ganz anders. Ich wollte auf diesem Grundstück keine Tiere bekämpfen. Während meiner Arbeit hatte ich gelernt, dass die kleinen Tiere unsere Freunde sind oder doch wenigstens unbewusst auf etwas reagieren, an dem wir Menschen nicht ganz unbeteiligt sind. Außerdem war ich mittlerweile in den "Verein Kooperation mit der Natur" eingetreten und dieses Projekt erschien mir wunderbar geeignet, einmal alles ganz anders zu machen. Allerdings war ich Anfänger und ängstlich. Wenn einem eine Pflanze eingeht, weil ein Experiment misslingt, ist das etwas anderes als wenn einem ein Haus wegbricht, dass einem noch nicht einmal gehört ...
Hatte ich gesagt, ich sei ängstlich? Eigentlich hatte ich wirklich Angst.
An der Stelle, wo die Ameisen zum Haus laufen, stand der alte Schreibtisch meines Opas nach hinten schief, weil sich das Fundament abgesenkt hatte. Und in dem selben Raum auf der anderen Seite, wo auch außen der Balken voller Ameisen war, zogen die kleinen braunen Wesen in 30 bis 40 Straßen übereinander vom Boden bis zur Decke an der Zimmerwand entlang. Schon beim Betreten des Raumes roch es überall nach Säure und ich ekelte mich. Mir kam es vor als würde ein riesiger zersetzender Organismus diesen Raum, samt Wände besetzen. Es gruselte mich sehr und ich betrat den Raum nur noch, wenn es unbedingt sein musste.

Von meiner Oma stand noch Ameisen-Ex im Schuppen und ich kaufte zwei Ameisenköder-Dosen. Das gab mir ein Gefühl der Sicherheit, auch wenn ich sie nicht benutzen wollte. Aber wenn ich es vielleicht doch nicht auf anderem Wege schaffte?
Doch ich war wild entschlossen, mein Bestes zu geben!
Als erstes nahm ich mit dem Ameisen Kontakt auf! In meiner Vorstellung gab es eine "Oberameise" oder eine übergeordnete Instanz, die ich stellvertretend für alle Ameisen ansprechen konnte. Ich stelle mich etwas unsicher vor: "Hallo Ihr Ameisen, ich bin ..." und sagte meinem Namen.

Es kam mir vor als würde sich eine sehr große Ameise von ihrer Arbeit abwenden, mich ansehen und fragen: "Wer bist Du denn?" Aber wirklich völlig überrascht.
Ich nahm diese Überraschung der Ameise so deutlich wahr, dass ich richtig beeindruckt war. Auch wurde mir in dem Moment klar, so wie mich die Ameise ansah, dass sie gar nicht wussten, dass ich jetzt hier die neue Hausherrin bin. Ich war betroffen und schämte mich regelrecht, weil ich so unhöflich gewesen war, hier schon einige Nächte geschlafen zu haben, ohne mich vorzustellen. Gleichzeitig amüsierte ich mich über mich selbst, weil ich gegenüber einer Ameise solche Gefühle hatte.

Aber das hatte ich nun begriffen und am nächsten Tag ging ich durchs ganze Grundstück und stellte mich vor. Es war ein rührendes Erlebnis. Eine Welle von Wohlwollen und fast Vertrautheit kam mir entgegen. Als würden sich die Pflanzen, der Boden, die Tiere freuen, dass endlich wieder einer der Familie hier wohnt. Ich freute mich, da ich dort ziemlich allein auf weiter Flur bin. Vielleicht hatte ich doch schon ein paar Freunde und wusste es gar nicht.
 
Das Gefühl, bedroht zu sein und der ekelige Geruch in dem einen Raum blieben aber und ich überlegte, was ich tun könnte. In ein paar Tagen wollten meine Tante und mein Onkel mich besuchen. Sie haben mit der Hälfte den größten Anteil an Haus und Grundstück und sie halten gar nichts von Ameisen! Ich erzählte ihnen von der Ameiseninvasion. "Du musst unbedingt etwas dagegen tun. Es gibt so Ameisenköder, die musst Du aufstellen: Die Ameisen machen das ganze Haus kaputt!" hörte ich sie sagen. Ich grummelte nur vor mich hin.
 
Danach nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und setzte mich mitten in den Ameisenraum. Die ganze Tapete war von unten bis oben voll. Ich redete mit Ihnen: "Liebe Ameisen, Ihr könnt hier nicht bleiben. Bitte geht raus in den Garten. Ihr könnt auch gerne weiter draußen am Haus entlang laufen, so wie bisher, aber kommt bitte nicht rein. Hier drin ist mein Bereich. Ich habe nichts gegen Euch und ich will Euch nicht bekämpfen. In drei Tagen kommen mein Onkel und meine Tante, die verstehen das nicht, die sehen die Dinge anders. Wenn die Euch sehen, werden sie etwas gegen Euch unternehmen. Ich möchte das eigentlich nicht, aber da sie die Haupteigentümer sind, will ich mich nicht mit ihnen anlegen. Bitte bleibt draußen. Dass Euch auf Euren Straßen ums Haus nichts passiert, dafür werde ich sorgen." Danach betrat ich den Raum nicht mehr.
Drei Tage später kam mein Besuch. Ich schickte meinen Onkel in den Raum vor, weil ich mich nach wie vor gruselte, um sich die Ameisenwand anzusehen. Er ging rein: "Wo meinst Du denn?" Da er sehr schlecht sieht, erklärte ich ihm, welche Wand ich meinte. "Ich sehe keine Ameisen." "Da ist doch alles voll", erwiderte ich und ging rein.  - Die Ameisen waren weg! Die Wand war leer. Wenn ich mir Mühe gab, sah ich noch ein oder zwei auf der Fensterbank. Die mehreren Hundert Tiere hatten das Haus verlassen und sind seit dem, also seit drei Jahren, nicht wieder reingekommen. Sie haben sich an meine Bitte gehalten.

Und ich hielt mich an meine Zusage, ihre Straßen zu beschützen. Ab und zu kommen mein Vater und ein Freund der Familie, um mir bei Arbeiten im Garten zu helfen. Auf der einen Seite des Hauses direkt neben der Seitentür steht eine Bank, auf der man wunderbar in der Sonne sitzen und eine Pause machen kann. Es geht zwei Stufen hoch und oben auf dem Sockel, etwa 15 cm parallel zur Tür, verläuft die Ameisenstraße. Mein Vater kam rein, um für sich und unseren Freund den Kaffee abzuholen.

"Du hast Ameisen!", sagte er, womit er selbstverständlich meinte, ich müsse etwas gegen sie tun. "Ja", sagte ich, "und bitte pass auf, dass Du nicht drauf trittst," erwiderte ich. Etwas verdutzt nahm er seinen Kaffee und ging wieder raus. "Weißt Du was?" hörte ich ihn draußen sagen. "Ich habe Anne eben darauf aufmerksam gemacht, dass sie hier ein Problem mit Ameisen hat und weißt Du was sie gesagt hat? Ich soll aufpassen und nicht drauftreten!"


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