Aus der Zeitschrift EinSicht Sommer 2006

Gartenandacht

von Wolfgang Römhild

Wir danken allen Beteiligten für das Vorrecht, einen lebendigen Garten gestalten und betreuen zu dürfen. Wir tragen große Verantwortung für dieses uns anvertraute Stück Erdoberfläche. Wir bemühen uns diesem großen Vertrauen gerecht zu werden und alles dort schon vorhandene Leben zu achten und zu schonen.

Der Garten ist eine kleine in sich geschlossene und in sich vollkommene Welt. Bevor wir sie betreten, wollen wir den Wesen unser Kommen durch Gedanken, Worte oder ein Klangzeichen rechtzeitig ankündigen. Wenn wir etwas ernten, wollen wir danken. Wenn wir Erde oder Kompost umarbeiten oder Gewächse beschneiden wollen, werden wir alle betroffenen Wesen vorher warnen, um sie nicht unnötig zu erschrecken. Mit Ehrfurcht treten wir auf unsere Mutter Erde, die von unergründlichem Leben erfüllt ist und unser aller Dasein ernährt und erhält. Behutsam gehen wir mit allen Tieren und Gewächsen um, die in dieser wunderträchtigen Schöpfung unsere geliebten Brüder und Schwestern sind. Alle Blumen blühen für uns, alle Gewächse schenken uns großzügig und freigebig ihre wundervollen Erträge. Es ist ein solcher Reichtum, dass wir genauso großzügig mit allen Wesen teilen können.

Wir wollen uns jeden Tag etwas Zeit nehmen, wenigstens vor einigen dieser Geschwister still zu werden, ihre Schönheit auf uns wirken zu lassen und ihnen zu danken, dass sie mit uns diesen Garten teilen. Vielleicht ist uns unser heutiger Tag nicht ganz gelungen, aber hier lebt eine in sich ausgewogene Schönheit, Freude und Vollkommenheit, die uns zu staunender Ehrfurcht führt. Und sehen wir ein Wesen leiden, so schenken wir ihm so lange dankbare Fürsorge und Liebe, bis es wieder strahlen kann.

Wir sehen den Himmel über uns, fühlen Sonne und Wind, erleben Regen und Schnee, Wärme und Kälte, und wissen dankbar, dass sie alle zusammenwirken zu üppigem und fröhlichem Gedeihen aller Wesen dieser Erde. Wir fühlen tief in uns die Vollkommenheit der gesamten Schöpfung und damit auch unseres eigenen Gartens, in dem wir freilich nur zeitweilige Gäste sind. Wir lassen tief in unser Herz das dankbare Bewusstsein friedlicher Vollkommenheit und wissen ganz fest, dass es unter all diesen vielfältigen, in Liebe miteinander vernetzten Geschwistern keine Feinde gibt. Jedes Wesen hat seine Heimat in diesem Garten, sein Lebensrecht, seine Aufgabe und seinen Beitrag zur Gesamtheit dieser kleinen Welt, der den anderen hilft, aber nicht schadet.

Wir danken für diese erst spät und schwer errungene Erkenntnis des friedlichen Zusammenlebens. Wir danken für dieses Vertrauen, welches uns von Sorgen, Ärger und Gewalttätigkeit befreit. Wir vertrauen dem göttlichen Gleichgewicht aller Wesen und Vorgänge und versprechen, den Frieden des Gartens nie mehr mit bösen Gedanken zu belasten. Dankbar und ehrfürchtig genießen wir den heiligen Frieden dieser mit uns verbundenen kleinen Welt, die uns Kraft und Freude für unseren ganzen Tag schenkt. Und wir schenken diese Freude weiter. Das persische Wort für Garten heißt Paradies!


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